ElektroSpicker #008
Selektivität – Für hohe Anlagenverfügbarkeit
Warum brauchen wir selektive Schutzgeräte in der elektrischen Installation? Wie wird Selektivität von Installationsgeräten erreicht?
Selektivität beschreibt ein besonderes Verhalten von mehreren (ab)schaltenden Schutzeinrichtungen im Fehlerfall zueinander. Selektivität liegt vor, wenn im Falle einer automatischen Abschaltung aufgrund eines Feh lers in der elektrischen Anlage bzw. an einem Betriebsmittel nur die Schutzeinrichtung abschaltet, die der Fehlerstelle unmittelbar vorgeschaltet ist. Weitere Schutzeinrichtungen, die einspeiseseitig vorgeschaltet sind bzw. solche, die parallele Stromkreise versorgen, bleiben dabei eingeschaltet, sodass nur der kleinstmögliche Teil der elektrischen Anlage vom Netz getrennt wird.
Wann ist Selektivität gefordert?
In der Anwendung führt Selektivität zur größtmöglichen Verfügbarkeit der Stromversorgung – sie ist also Voraussetzung für eine hohe Versorgungssicherheit. Selektivität wird deshalb für eine Reihe von Anlagen und An lagenteilen normativ oder auch von Planern bzw. Betreibern gefordert:
- Für Abgangsschaltfelder zu nachgeschalteten elektrischen Anlagen
- In medizinisch genutzten Bereichen
- Für vorübergehenden Anschluss von Verbraucheranlagen
- Für Anlagen für Sicherheitszwecke (z. B. Notbeleuchtung)
- Für Anlagen mit IT-Infrastruktur
- Allgemein für Anlagen, in denen eine unnötige Abschaltung zu einem nicht tragbaren wirtschaftlichen Schaden führt (z. B. zur Versorgung von Produktionseinrichtungen)
- Allgemein in Anlagen zur Versorgung von Kunden der Stromversorgungsunternehmen (gemäß den Anschlussbedingungen).
Maßnahmen zur Errichtung eines Selektivitätsverhaltens
01
Zielgerichtete Planung der Stromkreise zur Versorgung einzelner Verbraucher(gruppen), d. h. eine angepasste Aufteilung der Stromkreise mit Zuordnung der Anschlussstellen zu den jeweiligen Schutzeinrichtungen
02
Einsatz von entsprechend geeigneten Schutzeinrichtungen, mit ausgewiesenem Selektivverhalten für die, den Endstromkreisen vorgelagerten, Verteilungsstromkreise
Die Umsetzung von Punkt 2 erfordert entsprechende Angaben zur Selektivität bei den auszuwählenden Schutzeinrichtungen.
Selektivitätsbegriffe
Überlastselektivität
Zum Schutz bei Überlast kommen in der Regel zeitlich verzögernd wirkende Schutzeinrichtungen zum Einsatz, wobei die Ausschaltzeit von der Höhe des Überlaststroms und dem Bemessungsstrom der Schutzeinrichtung abhängt. Eine Koordinierung kann anhand der Auslösekennlinien erfolgen. Dies gilt für Sicherungen genauso wie für Schaltgeräte (Leitungsschutzschalter, Leistungsschalter). Bei Überlastselektivität ist zu beachten, dass die Auslösekurven, die miteinander verglichen werden, jeweils für die gleiche Umgebungstemperatur gelten müssen, ansonsten ist hier noch ein Korrekturfaktor zu berücksichtigen.
Kurzschlussselektivität
Der Selektivitätsnachweis unter Kurzschlussbedingungen kann nur bedingt durch den Anlagenplaner (z. B. durch Vergleichen der technischen Angaben der einzelnen Schutzeinrichtungen) erbracht werden. Vielmehr sind hier vollständige Selektivitätsangaben von den Herstellern der Schutzeinrichtungen erforderlich – entweder durch entsprechende tabellarische Zusammenstellung der unterschiedlichen Konfigurationen oder auch Planungssoftware, die bereits diese Informationen enthalten.
Der theoretische Nachweis eines Selektivitätsverhaltens ist nur teilweise möglich, beispielsweise bei Überlastselektivität durch den Vergleich von Auslöse kennlinien. Entscheidend für die Realisierung einer Selektivität in einer elektrischen Anlage ist zunächst die grundlegende Kenntnis der Funktionsweise der beteiligten Schutzeinrichtungen.
Du erfährst mehr zum Thema Selektivität und Back-up-Schutz in der 🎧 zugehörigen Folge BlindLeistung (Podcast).
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Merksätze
01Schaltgerät hinter Sicherung
Die Gesamt-Durchlassenergie I²t des Schaltgeräts muss kleiner sein als die Schmelzenergie der Sicherung, d. h. die energiebegrenzende Wirkung des Schaltgeräts muss verhindern, dass der Schmelzvorgang bei der Sicherung einsetzt.
Dies geht natürlich nur sehr bedingt und hängt stark vom Bemessungsstrom der Sicherung ab. Im Bereich bis 100A ist i. d. R. nur eine eingeschränkte Selektivität erreichbar, die für die vorgesehenen Anwendungen nicht ausreichend ist.
02Schaltgerät hinter Schaltgerät
In dieser Konfiguration kommt es sehr darauf an, welches Abschaltverhalten die vorgeschaltete Schutzeinrichtung hat. Handelt es sich um eine unverzögerte Abschaltung, besteht bereits bei kleinen unbeeinflussten Kurzschlussströmen die Gefahr, dass die vorgeschaltete Schutzeinrichtung ebenfalls auslöst, weil der Ansprechstrom ihres Kurzschlussauslösers durch den Momentanstrom überschritten wird. Handelt es sich bei der vorgeschalteten Schutzeinrichtung um einen Leistungsschalter, muss dieser selektiv arbeiten und mit der Möglichkeit der Einstellung einer Zeitverzögerung ausgestattet sein. Die erreichbare Selektivitätsgrenze bzw. der wirksame Bereich der Zeitverzögerung ist beim Hersteller des Leistungsschalters zu erfragen.
❯❯ HINWEIS. Die normative Forderung nach Selektivität findest Du unter anderem hier: DIN 18015-1, TAB 2007, DIN VDE 0100-100
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Vollständige Selektivität
Selektive Hauptleitungsschutzschalter (SH-Schalter, Hauptsicherungsautomaten), die den Schutzeinrichtungen für die Endstromkreise vorgeschaltet werden, arbeiten über einen weiten Bereich der Kurzschlussströme selektiv, i. d. R. bis zum Ausschaltvermögen des SH-Schalters. Erreicht wird dies über eine kurz zeitverzögerte Abschaltung bei Strömen, die den Ansprechstrom des Kurzschlusssensors überschreiten. Durch die Öffnung der Hauptkontakte ohne gleichzeitige Betätigung des Schaltschlosses erfolgt zudem eine zusätzliche Begrenzung der Durchlassenergie und damit eine deutliche Verbesserung der Selektivität zu vorgeschalteten Sicherungen, z. B. in der Einspeisung. Selektive Hauptleitungsschutzschalter (SH-Schalter, Hauptsicherungsautomaten) sind mit dem Symbol S gekennzeichnet.
❯❯ IN EIGENER SACHE. Ein Beispiel für eine Koordinationstabelle zur Kurzschlussselektivität einer Dreierkaskade findest Du in Folge. Sie bezieht sich auf den ABB S750/S750 DR und S200/S400E Leitungsschutzschaler.
Fragen und Antworten
01Worin besteht der Unterschied zwischen den Baureihen S750 und S750DR von ABB?
Die Baureihe S750 ist zur werkzeuglosen Montage auf einem 40mm Sammelschienensystem geeignet. Hingegen ist die Baureihe S750DR zur Montage auf einer Hutschiene vorgesehen (DR = DIN Rail, aus dem englischen: Hutschiene).
02Warum hat die Kombination S200/ DS200 mit S750 ein erhöhtes Ausschaltvermögen?
Der S750(DR) unterstützt den nachgeschalteten Sicherungsautomat oder FI/LS im Kurzschlussfall und begrenzt zusätzlich die Energie, die die Anlage und somit auch das Versorgungsnetz im Kurzschlussfall belastet. Die geprüften Kombinationen können ein erhöhtes Ausschaltvermögen haben. Die Baureihen S200/ DS200 können z.B. in Verbindung mit dem S750(DR) auch in Bereichen eingesetzt werden, die ein Bemessungsschaltvermögen von Icn = 10kA fordern.
03Welche Leitungsquerschnitte können an einen S750 angeschlossen werden?
An der unteren Rahmenklemme des S750 können ein-, mehr- und fein-drähtige Leiter von 2,5 bis 50 mm², auch zur Einspeisung in das Sammelschienensystem (max. 100 A), genutzt werden. An die schraubenlose Federklemme, oben am S750, können flexible Leiter von 2,5 bis 16 mm² mit/ohne Aderendhülse, insbesondere Zähleranschlussleitungen gemäß DIN 43870-3 und VDE 0603-2-1 angeschlossen werden.